Friedrich Bodenstedt (1819 bis 1891)
Der Liebende mag schüchtern sein,
Die Schüchternheit wird sich verlieren
Beim ersten Kusse.
Der Trinkende mag nüchtern sein,
Die Nüchternheit wird sich verlieren
Beim Weingenusse.
Doch wer nicht frühe Wein und Kuß
Gelernt zu schätzen:
Dem wird verspäteter Genuß
Das nicht ersetzen.
Ich suche durch Mühen
Meine Gedanken
Von dir zu lenken,
Aber sie glühen
Zu dir ohne Wanken,
Ich muß dein gedenken!
Wie nach der Sonne verlangen die Reben,
Verlangt mich's nach dir, meine Sonne, mein Leben!
Seh' ich deine zarten Füßchen an,
So begreif' ich nicht, du süßes Mädchen,
Wie sie so viel Schönheit tragen können!
Seh' ich deine kleinen Händchen an,
So begreif' ich nicht, du süßes Mädchen,
Wie sie solche Wunden schlagen können!
Seh' ich deine ros'gen Lippen an,
So begreif' ich nicht, du süßes Mädchen,
Wie sei einen Kuß versagen können!
Seh' ich deine klugen Augen an,
So begreif' ich nicht, du süßes Mädchen,
Wie sie mehr nach Liebe fragen können,
Als ich fühle. - Sieh mich gnädig an!
Wärmer als m e i n Herz, du süßes Mädchen,
Wird kein Menschenherz dir schlagen können!
Hör' dies wonnevolle Liedchen an!
Schöner als m e i n Mund, du süßes Mädchen,
Wird kein Mund die Liebe klagen können!
Dies soll euch jetzt als neuestes Gebot
Verkündigt werden:
Es soll auf Erden nicht mehr ohne Not
Gesündigt werden!
Wo nicht ein süßer Mund, ein schönes Auge
Verlangen weckt -
Da soll den Sündern alle Gnade nun
Gekündigt werden!
Jedweder Mund, der sich in schlechten Küssen
Versündigt hat,
Kann nur durch eine Flut von echten Küssen
Entsündigt werden!
Wenn der Frühling auf die Berge steigt
Und im Sonnenstrahl der Schnee zerfließt,
Wenn das erste Grün am Baum sich zeigt
Und im Gras das erste Blümlein sprießt -
Wenn vorbei im Tal
Nun mit einemmal
Alle Regenzeit und Winterqual,
Schallt es von den Höh'n
Bis zum Tale weit:
O, wie wunderschön
ist die Frühlingszeit!
Wenn am Gletscher heiß die Sonne leckt,
Wenn die Quell von den Bergen springt,
Alles rings mit jungem Grün sich deckt
Und das Luftgetön der Wälder klingt -
Lüfte lind und lau
Würzt die grüne Au,
Und der Himmel lacht so rein und blau,
Schallt es von den Höh'n
Bis zum Tale weit:
O, wie wunderschön
Ist die Frühlingszeit!
War's nicht auch zur jungen Frühlingszeit,
Als dein Herz sich meinem Herz' erschloß?
Als von dir, du wundersüße Maid,
Ich den ersten langen Kuß genoß?
Durch den Hain erklang
Heller Luftgesang,
Und die Quelle von den Bergen sprang -
Scholl es von den Höh'n
Bis zum Tale weit:
O, wie wunderschön
Ist die Frühlingszeit!
Wohl weiß ich einen Kranz zu winden
Aus Blumen, die ich selbst gepflückt -
Wohl auch das rechte Wort zu finden,
Ob ich betrübt bin, ob beglückt.
So lang' ich meiner Sinne Meister,
So lang' ich wie, was mir gefällt,
Gehorchen dienstbar mir die Geister
Der Blumen- und der Feenwelt.
Doch in der heilgen Glut des Kusses,
Im Wunderleuchten des Geschicks,
Im Augenblick des Vollgenusses,
Im Vollgenuß des Augenblicks,
Da fehlen mir zum Lied die Töne,
Gleichwie der Nachtigall der Schlag,
Weil wohl der Mensch das höchste Schöne
Genießen, doch nicht singen mag.
Wer kann die helle Sonne malen
In höchster Glut im Mittagslicht?
Wer nur sie seh'n mit ihren Strahlen
Von Angesicht zu Angesicht?