Ernst Scherenberg (1839 bis 1905)



Ja, wär' das Band nur irdisch

Ja, wär' das Band nur irdisch,
Das dich und mich umschlingt,
So zagt' ich vor der Prüfung,
Die uns das Scheiden bringt.

Doch geistig sind die Fäden,
Die Liebe um uns flicht;
Die Körper mag man trennen -
Die Geister trennt man nicht!

Lang' eh' die scheue Lippe
Das Liebeswort gestand,
Lang' eh' auf deinen Wangen
Mein erster Kuß gebrannt,

Lang' eh' wir Herz am Herzen
Gejubelt und geweint,
War Seele schon mit Seele
In Leid und Luft vereint.

Und ob aus meinen Armen
Sich heut' das Schicksal reißt -
O weine nicht! - Dir folgt ja,
Wohin du ziehst, mein Geist.

Und ob auch längst die Lippen
Geküßt den letzten Kuß,
Und ob auch längst die Augen
Getauscht den letzten Gruß,

Und ob auch längst im Winde
Verweht das letzte Wort -
Der Bund, den Seelen schlossen,
Währt ewig, ewig fort!


Lippen, die ihr sonst so herbe

Lippen, die ihr sonst so herbe,
Lippen, werdet fromm und büßt!
Denn ein Engel hat ja heute
Friedenbringend euch geküßt.

Pfeile, die ihr sonst geschleudert,
Voll von Haß und gift'gem Scherz,
Banne dieses Kusses Zauber
Nun für immer tief ins Herz.

Milde Worte sprecht in Zukunft,
Wo ihr sonst vor Zorn gebebt;
Und wo ihr bisher verdammtet,
O da tröstet und vergebt!

Hütet, hütet eure Schwelle,
Die ein Engelskuß geweiht,
Daß ihr ewig jener Lippen,
Die euch küßten, würdig seid!